Tagesweisheiten
Arschtritt
Ein sehr spezieller Mensch in meinem Leben hat mir heute kräftig in den Hintern getreten. Wütend über mein Zaudern und meine mangelnde Tatkraft, die seiner Meinung nach in ihrem Größenverhältnis diametral entgegengesetzt zu meinen gottgegebenen Möglichkeiten lägen, hat er mich gedrängt, gekränkt, gefordert, provoziert. Mein empfindsames Wesen hat gejammert und gefleht, er möge weniger fest treten, die Frequenz seiner Tritte senken oder bitte einfach aufhören und, mich wiegend und schaukelnd, meine Tränen trocknen . Er solle berücksichtigen, dass ich bin, wie ich bin. Er meinte, Papperlapapp und Schnickschnack, ich solle jetzt endlich springen, auch vom 10 Meter Brett, auch wenn unten vielleicht ein wasserleeres Becken auf mich wartet. Dann ist er gegangen. Ich hasse seine Art der Motivation. Und jetzt springe ich, du Arsch. Und versuche gleich mal 1½ Delphinsalti gehockt!
Anstieg
Warum, um Himmels Willen, finden es eigentlich alle so toll, wenn es jetzt aber endlich wieder bergauf geht? Sie sagen diesen Satz, und in ihren Gesichtern schimmern Zuversicht und Optimismus. Sind all diese Menschen denn noch nie gewandert? Wissen die nicht, wie anstrengend es ist, über Stunden oder sogar Tage bergauf, bergan, berghoch zu gehen? Haben die noch nie erlebt, wie die Kräfte schwinden? Der Körper schmerzt? Der Schweinehund kläfft? Der Wille schmilzt? Was ist denn nur so unsexy am Tal? Warum nur wollen alle den Gipfel stürmen? Ok, der Abstieg ist nicht gut für die Gelenke und niemand trainiert dabei seine Ausdauer. Während der Aufstieg uns nicht nur fordert, sondern auch stärkt. Und vielleicht sei es ja gestattet, an besonders kniffligen Stellen, den Dienst einer Seilbahn in Anspruch zu nehmen. Oder den eines versierten Bergführers. Wenn ich am Ziel mit einem atemberaubenden Ausblick und einer stärkenden Mahlzeit belohnt werde, soll es mir recht sein. Ohne den Abstieg zu verteufeln. Ich kann ja nicht ewig oben bleiben. Und wenn ich vorab alles richtig gemacht habe, wartet unten ein stützendes Bett im Lendenwirbelbereich in einem Hotel mit Roomservice auf mich. Und eine Massage? Bitte!
Präsenz
Das Leben im Hier und Jetzt ist gerade schwer in Mode. Viele Menschen bemühen sich darum. Sie fokussieren sich auf ihren Atem, die Wahrnehmung ihrer körperlichen Empfindungen, der Geräusche, ihrer Gefühle und Gedanken. Ich selbst übe mich seit immerhin strammen 9 Jahren darin, das Vergangene und Zukünftige da zu lassen, wo die beiden hingehören und mich auf das Einzige, das wir tatsächlich haben, zu stürzen: das Jetzt. Meinen Meister habe ich schon lange gefunden. Als ich neulich meine Hündin mit den glatt gelogenen Worten „Ich bin gleich wieder da“ im Auto zurück ließ, um nach geschlagenen drei Stunden, in denen ich selbstsüchtig meinem Vergnügen nachgegangen bin, zurückzukehren, hat sie mich mit größter Wiedersehensfreude und ohne jeden Vorwurf willkommen geheißen. Auf meinen Einwurf, dass es mir wahnsinnig Leid täte und sie zu recht mehr als verärgert sein könne, antwortete sie mir „Aber wieso, jetzt bist du doch da. Was kümmert mich das Eben?“. Ich glaube sie ist erleuchtet. Wer behauptet, Hunde hätten keine Seele, sollte ganz dringend mit dem Atmen beginnen.
38/40
Am Samstag brauchte eine Freundin ein neues Outfit. Sie, eine weitere Freundin und ich sind in die Boutique unserer ersten Wahl gegangen. Kurze Zeit später gesellte eine Professionelle sich an unsere beratungsbedürftige Seite. Wir waren also vier. D.h. eigentlich eine plus eine plus zwei. Denn die eine stand bis auf ihre Dessous, die beneidenswerter Weise in der Art waren, an die meine Mutter bei ihren steten Ermahnungen, ich möge bei der Wahl meiner Unterwäsche einen möglichen Verkehrsunfall mit anschließendem Aufenthalt im KKH in meine Überlegungen miteinbeziehen, gedacht haben muss, in der Umkleidekabine, während die Professionelle und die in Freundschaft Verbundene recht flott in einen veritablen Konkurrenzkampf gerieten, den ich durch das Anreichen indiskutabler Kunstfelljacken zu entspannen versuchte. Immer wieder brachte die Professionelle, der in Schweiß geratenen Einen, Kleidungsstücke in Größe 38. Und obwohl die Eine seit kurzem frisch verliebt und daher bereits um 4 Kilo leichter ist, reichte es dennoch nicht für eine 38. Sie war und ist eine 40. Das brachte die Verbundene gegen die Professionelle auf, es wurde eisig. Am Ende landete ein Blazer in 38 in der gelackten Einkaufstüte. Beim Schließen einen Tick zu klein, aber gut in den Schultern. Wahrscheinlich wird er ein zurückgezogenes Dasein seinem Hamburger Kleiderschrank führen. Der steht allerdings mit Sicherheit nicht in Eppendorf, wo offensichtlich hauptsächlich 36er und vereinzelt ein paar 38er leben.
Fragen, fragen und nicht sagen
Wenn man mal nicht weiß, was man malen soll, hilft es, mit geschlossenen Augen willkürlich Bleistiftpunkte auf ein weißes Blatt zu stechen. Anschließend verbindet man die Punkte miteinander und fabuliert, bevor man sein Werk ausmalt, was das sein könnte. Während eines gemeinsamen Schöpfungsaktes dieser Art mit meiner Freundin, sprachen wir u.a. über Macken, die wohl jeder hat. Meine Freundin wollte wissen, welche Macken ich hätte. Dazu fiel mir ein, dass der eine und die andere mein impertinentes Nachfragen mit Sicherheit als Macke definieren würde. Diese meine Eigenschaft wiederum lobte meine im Malvorgang befindliche Freundin in den höchsten Tönen. Sie sei schließlich der Grund dafür, dass sie selbst immer wieder ins Nachdenken käme und wir auf diese Weise so interessante Gespräche führten. Geringfügig aus dem Zusammenhang gerissen, ließ sie eine ihrer überraschenden Überlegungen laut werden und sagte „Manchmal denke ich darüber nach, wo ich wäre, wenn es mich nicht gäbe.“. Interessant! Ist das nicht im Grunde die Frage, was mit uns passiert, wenn wir tot sind, nur umgekehrt? Wo sind wir, wenn wir noch nicht geboren sind? Darüber muss ich nachdenken. Hatte ich schon erwähnt, dass meine Freundin 8 Jahre alt ist?
Schweinehund
Mein Eiswürfelbereiter steht seit 5 Tagen aus der Spülmaschine kommend auf der Arbeitsfläche meiner Küche herum. Er fühlt sich unnütz und sehnt sich danach, gebraucht zu werden. Er bohrt in der Nase und möchte endlich seiner Bestimmung folgend im Eisfach sein Arbeitsleben verbringen. Dafür müsste ich ihn allerdings mit einer Flüssigkeit füllen und dort deponieren. Bisher scheitert die Erfüllung all seiner Träume an meiner Trägheit. Ich schiebe das Befüllen des gelangweilten Küchengeräts vor mir her. Es ist von seiner Konsistenz her eher wackelig und in seiner Funktionalität der formschönen Optik untergeordnet. Ich weiß ganz genau, es wäre eine Sache von 1 Minute, den für beide unerfreulichen Zustand zu beenden. Und dennoch, ich tue es nicht. Genau wie endlich die familiären Urkunden einzuscannen, Meine Ordner einheitlich zu labeln und unnütze Dateien auf meinem Rechner zu löschen. Das Wissen um all das Unerledigte quält mich. Aber ich vertröste mich und die Wartenden. Bis es nicht mehr weitergeht mit unserer unerfreulichen Koexistenz. Ich nehme das durch Korrosion schon fast brüchig gewordene Gefäß, befülle es tatsächlich mit Wasser, öffne das 3 Sterne Fach und vollende unser beider Glück. Herrschaftszeiten! Fühlt sich das gut an! Warum denn nicht gleich so?
Boarding Completed
Heute steige ich in ein Flugzeug. Diese Art des Reisens war mir noch vor einer Weile unmöglich, und ich war dadurch in meiner persönlichen und beruflichen Flexibilität und somit Lebensqualität stark eingeschränkt. Der Mensch kann nun mal nicht fliegen, und sich in eine Situation zu begeben, die dazu führt, sich relativ schnell in, um und bei, 10.000m Distanz zum Erdboden zu befinden, fällt nicht direkt unter artgerechte Haltung. Die käfigartige Verwahrung mit eventuell bedrängenden Sitznachbarn macht das Ganze überhaupt nicht besser. Schon die Vorstellung, ab dem „Bording completed“ für einen längeren Zeitraum nicht aufstehen und einfach gehen zu können, hat mich erstarren lassen. Heute steige ich also in ein Flugzeug. Zwischen „vor einer Weile“ und „heute“ ist viel passiert. Fliegen ist heute ok. Der Basistarif, der mich ohne Snack und Getränk, dafür aber mit 8Kg Handgepäck innereuropäisch von A nach B kommen lässt, hat seinen Schrecken verloren. Erst vor kurzem habe ich den Fensterplatz geübt. Kein Thema. Der Sitz E27 in der ausgebuchten Maschine MUC-HAM neulich aber hat mich zum bewussten Atmen gezwungen. Die Henne vor mir wollte es wissen und hat doch tatsächlich ihren Sitz zurückgeklappt. Aber auch das habe ich gelassen weggeatmet. Ein unerwachsenes Boxen in Ihre Lehne hat mir im Übrigen zusätzliche Erleichterung verschafft.
Alte Muster
Nichts ist so veränderungsresistent, wie die Gefühle. Unser Verstand ist rasend schnell und eilt ihnen in Siebenmeilenstiefeln Kilometer weit vorweg. Sie würden gern hinterher kommen, womöglich aufschließen und vielleicht sogar mal überholen. Aber es nützt alles nichts. Längst haben wir das Problem verstanden, und trotzdem fühlt es sich höchst unschön an. Die schleimigen Tentakeln unserer veralteten Muster haben die armen Gefühle fest im Griff und beschwatzen sie mit flötender Stimme. Sie verstünden nicht, was all die Veränderung soll! Es sei doch schließlich immer so schön gemütlich gewesen mit den beiden. Angeblich wären sie doch prima miteinander klar gekommen, all die Jahre. Und überhaupt, die Gefühle seien ziemlich undankbar. Mit schlechtem Gewissen setzen die Gefühle sich wieder hin und geben auf. Der dazugehörige Mensch steckt sich wider besseres Wissen doch eine Zigarette an, kontaktiert den ehemals Erziehungsberechtigten, der ihm schon lange nicht mehr gut tut oder kauft sich das 107. Paar Schuhe. Dann geben sie Ruhe, die uralten Muster. Legen sich schmatzend in ihre Ecke und saufen unseren Schampus. Immerhin haben wir sie schon mal ans Licht gezerrt und kennen ihre miese, verschlagene, hinterfotzige Taktik.
Elefantentante
Der Flieder blüht und daher ist heute zwangsläufig Muttertag. So war das jedenfalls früher, als alles noch wesentlich besser war. Für mich, als ungewollt Kinderlose, ist das einer der härteren Tage im Jahr. Meinen Schmerz über eben erwähnte Tatsache, gedenkt die Werbung nicht im Mindesten zu respektieren. Im Gegenteil, sie forciert ihn wenig empathisch. Fragt sie unsensibel um die Weihnachtszeit herum „Was wäre das Leben ohne Kinder?“, lacht mir momentan ein ausgrenzendes „Mama ist die Beste“ aus den Blumenläden entgegen. Ich persönlich habe mich mit Demut den Ungerechtigkeiten des Lebens gebeugt, und mich statt für die Mutterschaft für die Rolle der Elefantentante entschieden. In meinem Leben spielt ein stetig wachsendes Rudel handverlesener Rotzgören, deren mit mir befreundete Eltern für Unterstützung dankbar sind, eine bedeutende Rolle. Meine Jüngste ist momentan 8, mein Ältester 27 Jahre alt. Natürlich ist die Elefantentantenrolle inhaltlich und emotional eine andere, als die der Mutter. Und dennoch fordere ich, dass die Industrie, denn wer sonst könnte hierfür zuständig sein, mich und all die anderen endlich anerkennt, eigene Feiertage für uns kreiert und dafür sorgt, dass man uns mit entsprechender Aufmerksamkeit und angemessenen Zuwendungen bedenkt! Wir sind schließlich auch eine Zielgruppe! So!
Nett sein
Ein Mann, Typ Feinripp, reist sein Fenster auf, lehnt sich heraus und keift, ich solle gefälligst meinen scheiß Köter anleinen. Eine Frau, Marke Kaschmir, deren vorrangigen Anspruch auf einen noch freien Parkplatz ich ohne Zögern akzeptiere und daraufhin die Stellung meiner Autoreifen umgehend korrigiere, schreit mich an, ich sei das mit Abstand Asozialste, was sie je getroffen hätte. Ein Sitznachbar im Kino, Gruppierung Hornbrille, zischt mich und meine gedämpft schnatternde Freundin an, wir sollen endlich still sein, obwohl wir uns noch im Zustand der Beworbenen befinden. Was Ist denn nur los mit einigen Menschen, dass sie ihren guten Ton vergessen, auf gegenseitigen Respekt pfeifen und ungehemmt lospöbeln? Leben die in einem anderen Land als ich? Herrscht bei denen eine Hungersnot? Ein alles Schöne in Schutt und Asche legender Krieg? Ein die Freiheit verlachender Diktator? Was frustriert diese Menschen in unserem herrlichen Land so sehr, dass sie sich beim geringsten Anlass vergessen und um sich schlagen, bis einer heult? Und wie kann ich gelassen bleiben, statt mir den hingestellten Schuh in falscher Größe anzuziehen? In der akuten Situation will mir das oft nicht so recht gelingen. Stattdessen folge ich meiner eigenen Regel, die besagt, dass wenn es etwas Nettes zu sagen gibt – dann immer raus damit. Und so lobe ich die warmherzige Käsefachverkäuferin, mache dem Kellner ein Kompliment für sein besonders liebevolles Kellnern und sage jedem Stinkstiefel, den ich treffe, er sei das Beste, was mir je passiert ist.
Böse Worte 1
Wer hat sich das eigentlich ausgedacht, dass man keine sogenannten bösen Worte benutzen darf? Und wie soll ich im Gespräch als wenigstens zweitweise irgendwie erziehungsverpflichtete mit meiner kleinen Freundin Olivia, 8 Jahre alt, entsprechend argumentieren? Vergangene Woche erzählte sie mir von ihrem Besuch in der Wiedergutmachungsstelle (kurz WiGuMa) ihrer Schule. Natürlich war sie dort nicht allein vorstellig, denn in diesem Fall handelte es sich um einen Konflikt, für den man mindestens zwei braucht. Ihr Klassenkamerad (sagt man heute noch Klassenkamerad?) hatte sie geschubst, ihr auf ihren Po gehauen und sie…. beschimpft. Natürlich mit bösen Worten, denn sonst wäre es per Definition ja kein Beschimpfen gewesen. Olivia ist eine ehrliche Haut. Klug, an ihrem Gegenüber interessiert, ein sehr reflektiertes kleines Mädchen. Und in dem nun folgenden, insistierenden, ich sage mal, Austausch, bestätigte sie meine Hypothese, dass zu den allermeisten Dingen nun mal mindestens zwei gehören. Ein böses Wort hatte das andere gegeben, die Erregung schaukelte sich hoch und fand ihren wütenden Ausdruck dann eben auch im Schubsen. Hatte Olivia ebenfalls geschubst?
Böse Worte 2
Hatte Olivia ebenfalls geschubst? Hier druckste sie etwas rum und hat dann vorrübergehend von ihrem Aussageverweigerungsrecht gebrauch gemacht. Dank unserer langjährigen Freundschaft und den vielen gegenseitigen vertrauensbildenden Erfahrungen, die wir miteinander machen durften, brach es dann aber doch aus ihr heraus. Sie werde manchmal einfach so wütend, wenn man sie trieze, ärgere, demütige. Und dann wisse sie schlicht nicht wohin mit ihrer riesen Wut. Und ja, dann würde sie platzen. Und vielleicht auch mal zurück!!!schubsen. Und, zugegeben, böse Worte sagen. Böse Worte. Welche können das sein, wenn man 8 Jahre alt ist, geliebt, behütet und gefördert wird, sich felsenfest auf liebende Eltern verlassen kann und in einem familienfreundlichen, ruhigen, naturnahen Stadtteil aufwächst? Doofmann? Blödmusiker? Oder der Klassiker: Alte Ziege?
Wie sich herausstellen sollte, sprechen wir hier von echt hartem Tobak. Meine Gesprächspartnerin hat sich gewunden, geziert und wiederum gedruckst. Aber dann senkte sie ihre kleine Stimme und zischte mir flüsternd und hinter vorgehaltener Hand ein „F… dich!“ zu.
Böse Worte 3
„F… dich?!“. Kinder nein! Was soll man dazu sagen? Das tut man nicht! Das ist wirklich nicht schön! So was sagt ein liebes Mädchen nicht! Und was ist eigentlich in den 43 Jahren zwischen meinem 8. Lebensjahr und heute passiert? Wenn ich ehrlich sein darf: Ich finde das echt nicht gut! Andererseits weiß ich um die unglaublich befreiende Wirkung eines kraftvoll herausgepressten Schimpfwortes! Ich stehe voll und ganz zu „Scheiße!“. Bei einem subjektiv empfunden vielleicht berechtigten „Arschloch!“ fängt mein Zweifel allerdings schon an. Und um es ganz deutlich zusagen, bei „Homo“, „Mongo“ und „Spasti“ ist mehr als Schluss! Da werde ich so wütend, da weiß ich dann nicht wohin mit meiner riesen Wut. Und ja, dann platze ich. Aber egal, wie wütend ich bin, geschubst wird nicht. Auch nicht zurück. Was unterscheidet das „Scheiße!“ von den anderen, die ich nicht wiederholen werde? Ganz klar, hier würden wir persönlich, diskriminieren, verletzen. Und das ist nach wie vor „Böböbö!“. Ok, also keine persönlichen Beleidigungen. Aber was könnte eventuell dennoch helfen, ein Ventil für die manchmal große Wut zu schaffen? Neben Ausdauersport, Atmen und Gewaltphantasien?
Böse Worte 4
Was also könnte eventuell dennoch helfen, ein Ventil für die manchmal große Wut zu schaffen? Eine Möglichkeit stellen kreative Wortneuschöpfungen dar. Ich mag es nicht, wenn 6jährige „geil“ sagen. Ich mag es auch nicht, wenn meine 80jährige Mutter das sagt. Dann entsteht bei mir ein ähnliches Gefühl, wie bei der Vorstellung, sie hätte öfter als zweimal in ihrem Leben Sex gehabt. Ein begeistertes „Woel“ (gesprochen Wauel) setzt sich aus WOW und dem unliebsamen „geil“ zusammen und ist von der gleichen Energie getragen.
Aufgrund unseres bereits vorgestern beschriebenen Vertrauensverhältnisses habe ich Olivia dann noch Folgendes berichtet: Als ich so alt war wie sie, da fühlte ich mich manchmal vollkommen ohnmächtig vor Wut ob der Ungerechtigkeit meiner Eltern. Losgeworden bin ich dieselbe, indem ich mit einer Haarbürste auf den, in den 70gern mit flauschiger Synthetik bespannten, Toilettendeckel eingeschlagen habe, dabei verzweifelt nach einem bösen Wort suchend, dass die ganze Tragweite meiner Wut und Verachtung für erwähnte Ungerechtigkeit und ihre Urheber zum Ausdruck bringen würde. Hatte sich das erste wütende Tosen in meinem Inneren gelegt, fand meine kleine, wunde Seele Erlösung in der Vorstellung meiner eigenen Beerdigung. Blass aber engelsgleich schön würde ich dort offen aufgebahrt liegen. In den gefalteten Händen nur einen welken Gänseblümchenstrauß. Die Gewissheit, dass es meiner unvorstellbar großen Trauergemeinde dann schließlich doch zutiefst leid täte, sie aber nun nichts mehr rückgängig machen könnte und mit ihrer tiefen Schuld würden leben müssen, hat es mir u.a. ermöglicht, zu meiner Mutter zu gehen und ihr zu vergewissern, dass ich nun wieder lieb sei.
Sie entstehen ja erst beim Gehen
Auf einer Hunderunde im Alstertal traf ich auf ein Schild, das mich vor dem Gang auf einem unbefestigten Weg warnte. Es gab zwei Möglichkeiten: Sicherheit oder das pure Abenteuer. Da wir in Deutschland leben, wo selbst die ungesicherten Wege in Wirklichkeit nichts Aufregendes zu bieten haben, konnte ich mich entspannt für die Gefahr entscheiden und voll einen auf Pionier machen. Die Hündin war begeistert, das Schuhwerk fest und so ging es trotz nicht vorhandenen Proviants los. Was soll ich sagen? Es war durchaus machbar, es galt nur einen quer liegenden Baumstamm zu überklettern und einen lächerlichen Wasserlauf zu queren. Ob ich enttäuscht war? Nein, es war ein wirklich schöner Spaziergang mit herrlichem Blick von oben, perfekten Badestellen für das Tier und der dauernden Möglichkeit einer echten Herausforderung. Manchmal darf es leicht sein, oder? So auch hier: Keine Erkenntnis oder gar Botschaft, kein „…sie entstehen ja erst beim Gehn.“. Ach, jetzt fällt mir doch etwas ein, denn ich wurde Zeugin der brutalen Natur und ihrer Bewohner. Ein übler Rabenvogel hat ein goldiges Eichhörnchen gejagt und gehetzt. Und auch, wenn Eichhörnchen laut Carrie Bradshaw lediglich Ratten mit niedlichen Schwänzen sind, habe ich auf das putzige Tier gewettet. Kurzum, das Eichhörnchen konnte entkommen. Und das, obwohl ich nicht, meinem Impuls folgend, eingegriffen, sondern das grausame Geschehen lediglich beobachtet habe!
Unsichtbar
Vor kurzem habe ich meine Mutter beim Bettenkauf begleitet. Inzwischen 80 jährig, im vergangenen Jahr 5 Mal an der Wirbelsäule operiert und in einer Einraumwohnung lebend, benötigt sie ein Bett mit Schubladen, in denen sie tagsüber Kissen und Decke verstauen kann. Meine Mutter scheint wundersamer Weise zu einem magischen Umhang gekommen zu sein, der sie offensichtlich unsichtbar macht. Der Verkäufer jedenfalls hat sie keines Blickes oder gar Augenkontaktes gewürdigt und seine mangelnde Kundenorientierung ausschließlich in meine Richtung verbalisiert. Non- und hörbar. Großschrittig ist er von einem bedarfsungerechten Modell zum nächsten gerannt, wenig interessiert an ihren OP- und altersgegebenen Möglichkeiten, was das Schritttempo anbelangt. Leider konnte er trotz mehrfacher Wiederholung nicht recht verstehen, dass ein Modell mit Bettkasten, der mit Kraft, über die meine Mutter nicht mehr verfügt, geöffnet werden muss, uns einen Scheißdreck interessiert. „Das schafft sie!“ lies er vorweg rennend verlauten und hat sie ihr diesbezügliches Unvermögen tatsächlich demonstrieren lassen. Eine Frechheit! Meine Mutter, ihre Kindheit im kriegsführenden Terrordeutschland verbringend, hat wie so oft geschluckt, was sie schmerzt. Und auch ich habe ob unserer nicht einfachen Vorgeschichte und meiner stillen Wut über ihr Unvermögen, sich zu wehren, die Klappe gehalten. Stattdessen habe ich ihn still verflucht: Soll er alt werden! Sehr, sehr alt!
Oder doch nicht?
Neulich habe ich mal kurz meine Patientenverfügung klar gemacht. Ganz locker habe ich mich dem Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz und seiner Info-Broschüre nebst Textbausteinen anvertraut, und mal eben so entschieden, was ich mir für eine Behandlung wünsche, wenn es ans Sterben geht und ich nichts mehr sagen kann. Quasi im Vorbeigehen steht jetzt fest, dass ich weder eine künstliche Ernährung, noch Fremdblutgabe, noch Beatmung wünsche und auf bewusstseinstrübende Medikamente verzichte. Ich habe zwei Personen benannt, die ab jetzt dafür zu sorgen haben, dass meine Wünsche ggf. respektiert und umgesetzt werden. Hut ab, ich bin ja echt ganz schön eigenverantwortlich. Still bete ich vor mich hin, dass ich meine Meinung nicht ändere, sollte ich tatsächlich im Koma liegen und doch noch alles mitbekommen und doch noch leben wollen aber leider nicht mal mehr willentlich Zwinkern können. Einmal Zwinkern hieße „Bitte hängt mich doch an die Dialyse“, zweimal „Ja, ich will die Organtransplantation ganz dringend!“. Aber vielleicht bin ich ja bis ganz zum Schluss bei glasklarem, messerscharfem Verstand und kann einen gewichtigen letzten Satz hauchend einfach mal loslassen.
Startschuss
Ostern 2008 ist es aus nur scheinbar heiterem Himmel über mich hereingebrochen. Eine Panikattacke am Karfreitag auf einem Mittelplatz Reihe 3 der hiesigen Kammerspiele glaubte ich noch als einmalig einordnen zu dürfen, was der Verlauf des Samstags zu bestätigen schien. Ein sonntäglicher Nervenzusammenbruch mit allem Schingarassabum aber hat mir ein Tor aufgesprengt, das zu durchschreiten ich wirklich keinerlei Interesse hatte. Die zunächst dahinter liegende Zeit war beängstigend, erschütternd und zutiefst verunsichernd. Ohne Pause habe ich geprüft, ob die jüngsten Ereignisse meines Lebens eine solche Reaktion rechtfertigen würden, oder ich schlicht ein Opfer früh einsetzender Wechseljahrsbeschwerden wäre. Welche Rettung aus der Hölle meines innerköpfigen Rasens es geben könnte. Wäre ich verrückt, müsste in eine Klinik und mit den Künsten der Psychopharmakologie ruhig gestellt werden? Und obwohl beruflich doch ganz nah dran, hat es eine befreundete Kollegin gebraucht, die mir die drei wichtigsten Sätze in meinem Leben gesagt hat: Das ist eine Depression. Da kann man was machen. Das wird wieder gut. Noch heute muss ich weinen, wenn ich daran denke. Nicht ahnend, was das krank sein und wieder gesund werden noch bedeuten würde, konnte ich jetzt losgehen.
Angst
Schon vor einer Weile ging es in einem Gespräch mit Olivia darum, woran wir glauben. Oder andersherum, ich hatte sowas gesagt wie „Ich glaube, die Geschäfte machen gleich zu.“, woraufhin Olivia sagte „Ich glaube an Geister!“. Ob sie denn wisse, dass es keine Geister gäbe? Ja, das wisse sie durchaus in ihrem Kopf. Dennoch würde sie an Geister, und zwar an böse, glauben. Sie hätte zwar noch nie einen gesehen, dennoch würde sie die fühlen: „Ich fühle die durch meine Angst!“. Ich glaube, Olivia hat die Sache mal wieder auf den Punkt gebracht. Angst ist, außer in der direkten Begegnung mit akuter Gefahr, ein schlechter Ratgeber. Sie lähmt und verwirrt uns und verleitet uns zu Halluzinationen und Illusionen. Wie in der Sache mit dem Terror, der jüngst in Manchester daran erinnert hat, dass Glaube nicht immer mit Liebe einhergeht. Ein wortlos machendes Verbrechen, dessen psychische Grundstörung sich leicht im ICD10 finden und diagnostizieren ließe, das aber starke Kräfte braucht, um sich dagegen zu stellen. Was kann also helfen, wenn die Inhalte der aktuellen Nachrichten uns zu paralysieren drohen? Zusammenfassend gesagt: Sich der Angst stellen. Kein Leugnen, kein Kompensieren, kein Verdrängen. Und keine Benzodiazepine! Anderen von seiner Angst erzählen. Lachen und Zusammenhalten. Und übrigens, wenn Olivia in der Nacht das Licht anmacht, sind die Geister sofort weg.
Willkommen!
Ich sitze auf einem für Hamburger Verhältnisse ziemlich uncoolen Fahrrad und gleite über den Campus der Universität von Groningen. Um mich herum neueste Gebäude, von Kopf bis Fuß in Zukunft gekleidet. Ich blicke durch Fenster, hinter denen helle Räume mit ergonomisch optimal geformten Sitzmöbeln liegen. An den Außenwänden der Gebäude hängen großformatige Transparente, auf denen Sätze wie „Get Starteted – The Future Is Here“ zu lesen sind, und die mich fühlen machen, ich hätte einen Einfluss darauf, dass doch noch alles gut wird in dieser Welt. Wenn ich mich nur stark mache. Aber ich bin weder 22 Jahre alt, noch eingeschriebene Studentin. Ich besuche lediglich eine, nämlich die Tochter einer Freundin. Immerhin studiert sie heute das Gleiche, wie ich damals. Allein die Umstände sind gänzlich andere. Während man uns seinerzeit zur Begrüßung hat wissen lassen, das Beste sei, wir würden gar nicht kommen, weil es im Seminar nicht genügend Stühle und auf dem späteren Arbeitsmarkt nicht genügend Plätze für uns gäbe, fühlen die Studenten hier sich willkommen, gewünscht und benötigt. Ich möchte da und heute auch noch mal studieren. Ich möchte, wie sie, über Freiheit diskutieren und was sie z.B. in Entenhausen oder der Türkei bedeutet. All das in fließendem Englisch, weil ich mich für das Weltbürgertum entschieden habe.
Halbvolle Gläser
Mein Leben lang habe ich davon geträumt, am Wasser wohnen zu können. Durch Umstände, von denen ich keine Nanosekunde geträumt habe, ist mir das vor einem guten Jahr geglückt. Ich wohne jetzt direkt an einem der Hamburger Alsterkanäle. Der Blick aus meinem Wohnzimmer ist ein weiter, das gegenüberliegende Gebäude ca. 300 Meter weit entfernt. Es liegt am anderen Ufer. Zu meinen Füßen ruhen diverse Rudervereine und Bootsverleiher. Ich beobachte das bunte Wassertreiben und platze vor Lokalstolz bei jedem Alsterdampfer und Achter, der an mir vorüberzieht. Leider funktioniert das nur vom späten November bis zum frühen April. Während der restlichen etwa acht Monate zerstören egozentrisch ausschlagende Bäume meinen Lebenstraum. Selbstgefällig und ohne Rücksicht auf meine Bedürfnisse knospen sie zunächst scheinbar harmlos vor sich hin, um dann höchst eitel ihr dämliches Blattwerk zu einer undurchschaubaren Wand zu verdichten. Hamburgs gesteigerte Lebensqualität durch sein üppiges Grün ist für mich kein Argument und ich treibe in meinen verbitterten Tagträumen Kupfernägel in die Stämme der Feinde meines Glücks. Andererseits ermöglichen mir die ebenfalls prächtigen Baumkronen an der Flanke des Hauses den Verzicht auf Gardinen zwecks Abschirmung nachbarschaftlicher Blicke in mein Bade- und Arbeitszimmer. Ohne einen Faden am Leib kann ich mich z.B. unbeobachtet bei offenem Fenster föhnen. Was soll ich nur machen? Ständig ist mein Glas halbvoll! Leider nur im Sommer. Im Winter muss ich erneut umdenken.
Besuch der besten Freundin
Viele Menschen beschreiben ihre Depression als ein Monster, das vor der Tür liegt und nur darauf lauert, wieder zuschlagen zu können. Sie müssen die andauernde Bedrohung unter ständiger Beobachtung und in Schach halten. Sie sagen, sie hätten Depressionen oder seien depressiv. Ich habe das anders empfunden. Ich war nicht depressiv, und ich hatte eine Depression. Und die war, das wusste ich sofort nach ihrem erstmal unerbetenen Einzug, die beste Freundin, die sich jemand wünschen kann. Eine sehr strenge, genaue, nicht bestechliche, unerbittliche Freundin. Eine, die vermittelt. In diesem Fall zwischen mir und meiner Lebendigkeit. Sie sagte, sie hätte mich lange gewarnt, mir viele Vorzeichen geschickt, Ängste, Zwänge, unlustvolle Gefühle in allen Variationen. Es täte ihr leid, sehr, aber wer nicht hören wolle, müsse fühlen. Und darum käme es jetzt ganz dicke. Keine wirkliche, nachhaltige Veränderung ohne Katastrophe. Keine Befreiung ohne Schlag. Verunsichert habe ich sie hereingebeten, ihr einen Platz und Erfrischungen angeboten, sie zum Erzählen eingeladen. Und ihr aufmerksam zugehört.