Böse Worte
Wer hat sich das eigentlich ausgedacht, dass man keine sogenannten bösen Worte benutzen darf? Und wie soll ich im Gespräch als wenigstens zweitweise irgendwie erziehungsverpflichtete mit meiner kleinen Freundin Olivia, 8 Jahre alt, entsprechend argumentieren?
Vergangene Woche erzählte sie mir von ihrem Besuch in der Wiedergutmachungsstelle (kurz WiGuMa) ihrer Schule. Natürlich war sie dort nicht allein vorstellig, denn in diesem Fall handelte es sich um einen Konflikt, für den man mindestens zwei braucht.
Ihr Klassenkamerad (sagt man heute noch Klassenkamerad?) hatte sie geschubst, ihr auf ihren Po gehauen und sie…. beschimpft. Natürlich mit bösen Worten, denn sonst wäre es per Definition ja kein Beschimpfen gewesen.
Olivia ist eine ehrliche Haut. Klug, an ihrem Gegenüber interessiert, ein sehr reflektiertes kleines Mädchen. Und in dem nun folgenden, insistierenden, ich sage mal, Austausch, bestätigte sie meine Hypothese, dass zu den allermeisten Dingen nun mal mindestens zwei gehören.
Ein böses Wort hatte das andere gegeben, die Erregung schaukelte sich hoch und fand ihren wütenden Ausdruck dann eben auch im Schubsen. Hatte Olivia ebenfalls geschubst? Hier druckste sie etwas rum und hat dann vorrübergehend von ihrem Aussageverweigerungsrecht gebrauch gemacht. Jedenfalls ohne ihren Anwalt.
Dank unserer langjährigen Freundschaft und den vielen gegenseitigen vertrauensbildenden Erfahrungen, die wir miteinander machen durften, brach es dann aber doch aus ihr heraus. Sie werde manchmal einfach so wütend, wenn man sie trieze, ärgere, demütige. Und dann wisse sie schlicht nicht wohin mit ihrer riesen Wut. Und ja, dann würde sie platzen. Und vielleicht auch mal zurück!!!schubsen. Und, zugegeben, böse Worte sagen.
Böse Worte. Welche können das sein, wenn man 8 Jahre alt ist, geliebt, behütet und gefördert wird, sich felsenfest auf liebende Eltern verlassen kann und in einem familienfreundlichen, ruhigen, naturnahen Stadtteil aufwächst?
Doofmann? Blödmusiker? Oder der Klassiker: Alte Ziege?
Wie sich herausstellen sollte, sprechen wir hier von echt hartem Tobak. Meine Gesprächspartnerin hat sich gewunden, geziert und wiederum gedruckst. Aber dann senkte sie ihre kleine Stimme und zischte mir flüsternd und hinter vorgehaltener Hand ein „F…k dich!“ zu.
Kinder nein! Was soll man dazu sagen? Das tut man nicht! Das ist wirklich nicht schön! So was sagt ein liebes Mädchen nicht! Und was ist eigentlich in den 43 Jahren zwischen meinem 8. Lebensjahr und heute passiert?
Wenn ich ehrlich sein darf: Ich finde das echt nicht gut! Andererseits weiß ich um die unglaublich befreiende Wirkung eines kraftvoll herausgepressten Schimpfwortes! Ich stehe voll und ganz zu „Scheiße!“. Bei einem subjektiv empfunden vielleicht berechtigten „Arschloch!“ fängt mein Zweifel allerdings schon an. Und um es ganz deutlich zusagen, bei „Homo“, „Mongo“ und „Spasti“ ist mehr als Schluss! Da werde ich so wütend, da weiß ich dann nicht wohin mit meiner riesen Wut. Und ja, dann platze ich. Aber egal, wie wütend ich bin, geschubst wird nicht. Auch nicht zurück.
Was unterscheidet das „Scheiße!“ von den anderen, die ich nicht wiederholen werde? Ganz klar, hier würden wir persönlich, diskriminieren, verletzen. Und das ist nach wie vor „Böböbö!“.
Ok, also keine persönlichen Beleidigungen. Aber was könnte eventuell dennoch helfen, ein Ventil für die manchmal große Wut zu schaffen? Neben Ausdauersport, Atmen und Gewaltphantasien?
Eine Möglichkeit stellen kreative Wortneuschöpfungen dar. Ich mag es nicht, wenn 6jährige „geil“ sagen. Ich mag es auch nicht, wenn meine 80jährige Mutter das sagt. Dann entsteht bei mir ein ähnliches Gefühl, wie bei der Vorstellung, sie hätte öfter als zweimal in ihrem Leben Sex gehabt (was übrigens einmal zu viel war!).
Ein begeistertes „Woel“ (gesprochen Wauel) setzt sich aus WOW und dem unliebsamen „geil“ zusammen und ist von der gleichen Energie getragen.
Aufgrund unseres bereits vorhin beschriebenen Vertrauensverhältnisses habe ich Olivia dann noch Folgendes berichtet: Als ich so alt war wie sie, da fühlte ich mich manchmal vollkommen ohnmächtig vor Wut ob der Ungerechtigkeit meiner Eltern. Losgeworden bin ich dieselbe, indem ich mit einer Haarbürste auf den, in den 70gern mit flauschiger Synthetik bespannten, Toilettendeckel eingeschlagen habe, dabei verzweifelt nach einem bösen Wort suchend, dass die ganze Tragweite meiner Wut und Verachtung für erwähnte Ungerechtigkeit und ihre Urheber zum Ausdruck bringen würde.
Hatte sich das erste wütende Tosen in meinem Inneren gelegt, fand meine kleine, wunde Seele Erlösung in der Vorstellung meiner eigenen Beerdigung. Blass aber engelsgleich schön würde ich dort offen aufgebahrt liegen. In den gefalteten Händen nur einen welken Gänseblümchenstrauß. Die Gewissheit, dass es meiner unvorstellbar großen Trauergemeinde dann schließlich doch zutiefst leid täte, sie aber nun nichts mehr rückgängig machen könnte und mit ihrer tiefen Schuld würden leben müssen, hat es mir u.a. ermöglicht, zu meiner Mutter zu gehen und ihr zu vergewissern, dass ich nun wieder lieb sei.
Aber das ist eine andere Geschichte, auf die ich später zurückkomme.